In seinem neuen, schmalen Roman erkundet der französische Schriftsteller Christophe Boltanski das Leben eines Unbekannten, von dem ihm anfangs nichts als eine Sammlung rätselhafter Selbstporträts vorliegt. Ein kluges und poetisches Buch über das, was von einem Leben übrigbleibt.
Es beginnt damit, dass dem Autor ein Fotoalbum in die Hände gerät. Es enthält hunderte Bilder desselben jungen Mannes, entstanden 1973 und 1974. Alle Fotos sind in einem Passbildautomaten aufgenommen und zeigen ihn in den unterschiedlichsten Posen: mal ernst, mal lächelnd, mal verkleidet als Elvis, mal gemeinsam mit anderen … Hinter dieser rätselhaften Sammlung scheint sich eine Geschichte zu verbergen.
Boltanski begibt sich auf die Suche nach der Identität des Unbekannten. Die ersten Funde geben dabei mehr Fragen als Antworten auf: Warum reiste er jahrelang quer durch Europa, durch Frankreich, Italien, die Schweiz, nie mehr als ein paar Monate an einem Ort? Und warum scheint auch von den Personen, bei denen er damals wohnte, jede Spur zu fehlen? War er undercover für die israelische Armee oder den Geheimdienst Mossad tätig?
Es ist faszinierend zu lesen, wie sich Boltanski seinem Sujet nähert. Er füllt die Leerstellen nicht mit effekthascherischen Spekulationen, sondern tritt in einen behutsamen Dialog mit dem Unbekannten, dessen Name – wie sich bald herausstellt – Jacob lautet. Dabei ist ihm zu Beginn selbst nicht klar, warum er sich auf die Suche nach den Lebensspuren dieses Fremden macht:
»Man sucht sich eine Geschichte nicht aus. Sie drängt sich einem auf. […] Man versucht, zu verstehen warum, aber es gelingt einem nicht. Man weiß nicht, von welcher Seite man sie packen soll, bis zu dem Moment, wo man eine vertraute Note wahrnimmt, wie ein dumpfes Echo unserer eigenen inneren Musik, und langsam lässt man sich anstecken.«
Diese poetische und zugleich nüchterne Sprache (von Christoph Scheffel hervorragend ins Deutsche übertragen) ist es, die Boltanskis Buch zu einem Erlebnis macht. Ihr entspricht ein zurückhaltender Erzählgestus, der immer wieder die kleinen Details in den Blick nimmt und scheinbar alltägliche Dinge zum Ausgangspunkt von klugen Reflexionen macht.
Im weiteren Verlauf des Buches kommt immer mehr Licht in Jacobs verworrenes und tragisches Leben. Doch auch wenn im Klappentext von einer »unglaubliche[n] Biographie« die Rede ist, macht nicht die Geschichte an sich den Reiz des Textes aus. So interessant dieser Lebenslauf auch ist: Es gibt sicher zahllose ähnlich dramatische Geschichten, deren letzte Spuren unentdeckt auf Flohmärkten und Dachböden verborgen sind.
Wirklich faszinierend hingegen ist die Perspektive, mit der der Roman auf das blickt, was von einem ganz normalen und zugleich außergewöhnlichen Leben übrig bleibt: »Du bist nur ein Mensch. Ein Anonymus mit vielfältigen Namen, mit einem riesigen und winzigen Leben.« Der Autor lässt uns am Beispiel eines zufälligen Fremden eintauchen in die Fülle des Menschseins, das immer aus mehr besteht, als sich in einem Foto, einem Album oder einem ganzen Buch darstellen lässt. Und so ist es nur konsequent, dass Boltanski, nachdem er viele Daten und Fakten über Jacob zusammengetragen hat, resümiert: »Ich vermute, dass über dich wohl alles zu sagen bleibt.«